Interview mit einer Mitläuferin in Rostock


Vor einigen Monaten hat Johannes Ponader, seines Zeichens Politischer Geschäftsführer der Piratenpartei Deutschland, aber auch Künstler und Theaterregisseur, in einem Artikel in der Zeit seinen Rücktritt vom Amt öffentlich gemacht – vom Arbeitsamt. Seine Erlebnisse mit dem Amt, die er im Artikel schilderte, führten dazu, daß sich eine Bewegung formte, die den Betroffenen und Arbeitslosen helfen wollen, denn, so Ponader: 

Die Jobcenter teilen ihre Kunden in mehrere Kohorten ein: arbeitsmarktnah, arbeitsmarktfern, nicht vermittelbar. Doch es gibt auch eine inoffizielle Kategorie: Kunden, die ihre Rechte kennen. Sie kommen oft zu zweit aufs Amt, begleiten sich gegenseitig. Insider berichten, das seien etwa zwei Prozent der Kunden. „Wären es fünf bis zehn Prozent“, so ein Insider, „könnten wir einpacken“.

Viele Antragsteller kennen ihre Rechte nicht oder sind einfach beim Gang aufs Amt eingeschüchtert. Die neue Bewegung, die sich aufgrund dieses Artikels in der Zeit gegründet hat, nennt sich “Die Mitläufer” und ihr Hilfsmodell ist so simpel wie wirksam: sie begleiten Menschen, die dies wollen, mit auf das Arbeitsamt bzw. in das Jobcenter und leisten ein wenig Beistand, passen vielleicht auf, daß die Menschen nicht eingeschüchtert oder gar über das Ohr gehauen werden.

Schnell haben sich in ganz Deutschland Menschen gefunden, die bereit sind, ein bißchen ihrer Freizeit zu opfern, um andere bei ihren Gängen auf das Amt, egal welches, zu begleiten. Sie nennen sich “Die Mitläufer” und ihre Webseite ist unter http://wirgehenmit.de/ zu finden. Auch in Rostock gibt es eine Mitläuferin: Nicole W. Hier ein Interview per Mail mit Nicole: 

Hallo Nicole! Magst Du dich kurz selber vorstellen?
Mein Name ist Nicole W. und ich bin 35 Jahre jung. In Rostock wohne ich erst seit 5 Jahren, ich komme ursprünglich aus dem Westen nahe Düsseldorf. Allerdings fühle ich mich sehr wohl in der Hansestadt und könnte mir unter keinen Umständen vorstellen wieder weg zu ziehen.
Ich bin dreifache Mama und alleine, weil Rostock sehr Familienfreundlich ist – und gerade der Stadtteil, in dem ich wohne, politisch sehr hart arbeitet, den Stadtteil wohnenswert zu machen und vor allem Familienfreundlich zu gestalten – ist es Grund genug, hier nicht mehr weg zu wollen.

Was sind die Mitläufer? Worum geht es bei http://wirgehenmit.org?
Mitläufer sind Menschen die in Ihrer Freizeit, anderen Menschen bei schwierigen oder überhaupt bei Ämtergängen beistehen und eben “Mitlaufen”. Sie sind in Prinzip stumme Zeugen, die allein durch Ihre Anwesenheit dafür Sorge tragen, dass sich an geltende Gesetze gehalten wird und das derjenige, mit dem mitgelaufen wird, im Amt ordentlich behandelt und beraten wird.

Wie bist Du selber auf die Mitläufer aufmerksam geworden bzw. was ist deine Motivation, dich selber als Mitläuferin zu beteiligen?
Aufmerksam geworden bin ich durch Johanes Ponader und sein Wirrwar beim Amt und die daraus resultierende Medienschlacht mit anschließender Initiative bei Twitter, eine solche Sache zu starten. Ich fand die Idee von Anfang an gut und habe keine Sekunde gezögert, mich dort einzutragen.
Ich bin ein sehr sozialer Mensch und wenn ich mit solchen kleinen Gesten, anderen Menschen helfen und eventuell Hoffnung schenken kann, bin ich immer bereit, etwas zu tun.

Hattest Du schon selber Erlebnisse bei der Agentur für Arbeit bzw. im Jobcenter, bei denen Du dir einen Mitläufer gewünscht hättest?
Bedingt durch den tödlichen Unfall meines mittleren Sohnes vor etwa drei Jahren, hatte ich gerade in der Anfangszeit danach selber des öfteren Begleitung beim Amt. Damals habe ich schon erfahren wie anders man behandelt wird, sobald eine andere Person mit im Raum sitzt und das hat sich in den letzten drei Jahren so weiter gezogen, da ich immer mal wieder auf das Angebot von Begleitern zurückgegriffen habe. Die Beratung ist viel umfänglicher und man wird viel weniger schnell “abgespeist”. Abgespeist wird man schnell, wenn man ins Amt geht und keine Ahnung hat, was seine eigenen Rechte sind, deswegen wäre generell mein Tipp, sich vor einem Amtsgang nach seinen Rechten und nach allen Möglichkeiten kundig zu machen. Das nur am Rande.
Nach dem Unfall war ich drei Jahre berufsunfähig und wurde relativ in Watte gepackt.Nachdem ich aber offiziell wieder einsatzfähig war, wechselte mein Sachbearbeiter (aus organisatorischen Gründen) und dieser hatte von der Vorgeschichte keine Ahnung, weil er offensichtlich seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Das Gespräch war nicht besonders schön: ich wurde als “Verweigerer” dargestellt und auch sonst nicht sehr nett behandelt. Zwar nicht schlecht, aber man hat einfach gemerkt, das man nur eine Nummer von Vielen ist, die lästig ist, weil sie schon solange nicht gearbeitet hat. Erst als beim Sachbearbeiter der Groschen gefallen war, was meine Vorgeschichte ist (nach der wortwörtlichen Frage:”Wieso sind sie denn so..naja so eben”) wurde ein anderer Ton angeschlagen. Bei diesem Gespräch hätte ich gerne jemanden dabei gehabt, da ich mich danach nicht besonders gut gefühlt hatte. Auch wenn der Sachbearbeiter sich noch im Gespräch entschuldigt hatte. Aber es zeigte mir einfach wie mit Menschen umgegangen wird, die nicht ins Schema passen.

Hattest Du schon einen Einsatz als Mitläufer?
Bisher hatte ich noch keinen Einsatz als Mitläufer.

Weißt Du, ob das Projekt bereits in Rostock bei der Bevölkerung bekannt ist? Oder scheuen sich die Leute, um Hilfe zu fragen? Gibt es bereits Erfahrungen hierzu aus anderen Städten?
Ich persönlich denke, diese Initiative ist nicht sehr bekannt.Ich habe meine Mitmenschen schon des öfteren drauf angesprochen und mich als “Mitläufer” angeboten, aber ich glaube, viele denken das man gar keine andere Person dabei haben darf oder sie haben Angst und scheuen sich.

Wie kann man selber Mitläufer werden und anderen helfen? Wie kann man helfen, wenn man selber keine Zeit hat, weil man zum Beispiel selber arbeiten muss?
Mitmachen ist ganz einfach. Es gibt eine Liste auf der man sich eintragen kann und schon ist man dabei. Außerdem gibt es noch etliche andere Möglichkeiten diese Initiative zu unterstützen. All das ist zu finden unter http://wirgehenmit.org/.

Wie ist deine Einschätzung zur gesellschaftlichen und politischen Bedeutung der Mitläufer? 
Ich schätze die Bedeutung sehr hoch ein. Auf diese Art zeigen die Menschen, dass sie nicht mehr alles mit sich machen lassen, nur weil sie in einer momentan schlechteren Position verharren.

Sind die Mitläufer dein einziges ehrenamtliches Engagement oder gibt es da noch mehr?
Seit etwa zweieinhalb Jahren bin engagiere ich mich freiwillig in unserem Stadtteil- und Begegnungszentrum. Ich unterstütze u.a. die Leiterin des Spielzimmers für die Grundschulkinder und leite seit einigen Monaten das durch Eltern geführte Mutter-Kind-Zimmer für die ganz kleinen bis 5 Jahre. Dazu habe ich vor kurzem die Leitung einer von Jugendlichen geführten “Kinderzeitung” übernommen.

Ähnlich wie bei Johannes Ponader schildert auch Nicole entsprechende Erlebnisse bei ihren Gängen auf das Amt. Besonders interessant ist dabei, daß sie das Konzept des Mitgehens oder eines Begleiters aufgrund ihres Schicksals durch den Verlust ihres Sohnes bereits vorher kennengelernt und erfahren hat, wie anders man dann dort auf dem Amt behandelt wird.

Umso deutlicher wird deswegen auch die Bedeutung dieser Initiative, oder wenn man so will: Bewegung: sie bringt den Betroffenen ein wenig Menschlichkeit zurück, weil sie ganz einfach menschlicher behandelt werden, wenn sie nicht alleine vor ihrem Sachbearbeiter sitzen. Wer schon einmal selber ALG2 bezogen hat, weiß aus eigener Erfahrung, daß man sich da schon ziemlich nackig machen muss, wenn man den Antrag stellt. Die Journalistin Bettina Hammer hat dies auch nochmal selber in einem Beitrag auf wirgehenmit.org dargestellt.

Außerdem zeigt das Beispiel der Mitläufer, wie sich Sachen, die im Netz entstanden sind, mittlerweile als Bewegung im wirklichen Leben manifestieren und der Allgemeinheit dienen können. Insofern ist das Projekt der Mitläufer und die Webseite http://wirgehenmit.org/ vielleicht sogar prototypisch für andere gesellschaftliche Beteiligungen und die Bedeutung von netzpolitischem Engagement in der heutigen Gesellschaft.

Bleibt nur zu hoffen, daß sich noch weitere Menschen wie Nicole finden, die Mitmenschen auf ihren Gängen in die Ämter begleiten und auch, daß das Projekt in der Bevölkerung an sich bekannter wird. Im Idealfall sollte niemand mehr alleine auf das Amt gehen müssen und jeder wissen, daß er das auch gar nicht braucht, weil es die Mitläufer gibt!

PS: Auf der Webseite gibt es auch PDFs zum selberausdrucken und weiterverteilen. Eines der PDFs findet ihr auch hier unter dem Artikel.